September 1987. Meine erste Reise nach Nepal, der Laderaum der Lufthansa-Maschine war mit einer Wartungsplattform belegt, deshalb durfte unser Gepäck – auch das scharfe – mit in den Passagierraum.
Wir waren als zwei junge Studenten - mit großen Träumen vom Himalaya-Abenteuer - auf dem Weg, um die richtig hohen Berge hautnah zu erleben. Ausgestattet mit einer fulminanten Motivation, dürftiger Ausrüstung und überschaubarer alpiner Kompetenz. Wir waren fest entschlossen, ohne jede Unterstützung auszukommen. Trotzdem beneidete ich den Sitznachbarn insgeheim: Ferne Länder erkunden, spannende Bergabenteuer erleben und dafür bezahlt werden, schien mir ein schlüssiges Lebenskonzept.
Fast 30 Jahre später: aufmerksam verfolge ich die Vorstellungsrunde und kombiniere sie innerlich mit meinen übrigen Wahrnehmungen. Wir sind im Besprechungszimmer eines Münchner Sportgeschäfts zum Teilnehmer-Vortreffen. Ziel unserer Summit-Club Expedition ist ein 7000er in der Annapurna-Region. Mich interessiert vor allem mit wem ich im Herbst fünf Wochen fast 24 Stunden täglich verbringen werde und wie sich das auf die Gruppenstimmung auswirken wird. Nach mittlerweile einigen Expeditionen und Trekkingreisen stellt sich eine gewisse Routine ein. Gelernt und akzeptiert habe ich vor allem, dass die größten Herausforderungen im Organisieren, Improvisieren und psychologischen Betreuen der Teilnehmer liegen.
Vorbereitung
Kartenstudium, Tourenberichte, aktuelle Fotos und Führerliteratur dazu sind Standard. Wenn möglich suche ich das persönliche Gespräch mit Locals und Kollegen, die vor Ort waren. Trotz fester Reiseprogramme läuft selten alles nach Plan. Es hat sich bewährt, bereits im Vorfeld Schwachpunkte zu kennen und mögliche Alternativen anzudenken. Zugegeben: meist passiert genau das, womit man nie rechnet. Die erfolgreiche Lösung hängt dann wesentlich von unseren lokalen Partnern ab und mit wie viel Kompetenz und gutem Willen sie an die Sache gehen. Satellitentelefon, E-Mail und ZAMG-Wetterberichte sind auf Expeditionen und anspruchsvollen Trekkings üblich. Je abgelegener das Ziel, desto ausgeprägter ist der Bürokratismus. Oft ändern sich die (ohnehin undurchschaubaren) Regularien von Jahr zu Jahr. Führen weltweit bedeutet immer auch Eintauchen in eine fremde Kultur. Wir haben Teilnehmer, die genau deshalb mit uns reisen. Manche sind einfach neugierig und lassen sich überraschen, einige wenige nehmen die fremden Sitten als notwendiges Übel in Kauf, weil in den Alpen kein 6000er steht.
Gelassen unterwegs – gesund nach Hause
Für jede Reise überlege ich mir ein passendes Motto, das ich feierlich verkünde, wenn es losgeht. Unsere 7000er-Reise stand unter dem Leitspruch „Gelassen unterwegs – gesund nach Hause”. Sobald es dann stressig wird, weil der Transfer auf sich warten lässt oder die Ehrgeizigen schon in den Startblöcken stehen, packe ich es aus: Und schon kehrt wieder Ruhe ein. Im Laufe jeder längeren Reise gibt es unterschiedliche gruppendynamische Entwicklungen. Im besten Fall wächst das Vertrauen zwischen den Teilnehmern und aus Einzelreisenden wird ein Team. Unterschiedliche Persönlichkeiten, Motivationen, körperliche Voraussetzungen und Vorstellungen sind schwer unter einen Hut zu bekommen. Umso besser, wenn die Teilnehmer Rücksicht aufeinander nehmen. Als Bergführer kann ich gezielt Einfluss darauf nehmen.
Teambuilding
Das vierstufige Phasenmodell von Bruce Tuckman ist ein Modell der Arbeitsorganisation mit dem Ziel ein positives Arbeitsklima und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu schaffen. Das kann auch auf einer längeren Auslandsreise nicht schaden.
- Forming - Die Orientierungsphase
- Storming - Die „Sturm-und-Drang-Phase”
- Norming - Strukturen und (stillschweigenden) Verabredungen werden klarer
- Performing - Jetzt agieren die Teilnehmer miteinander auf Augenhöhe
Gemeinsam
Ganz nebenbei normalisiert sich der Kontakt zwischen den oft zurückhaltenden lokalen Guides und unseren Teilnehmern. Konflikte unter den Teilnehmern lassen sich auf längeren Reisen nicht vermeiden. Wenn es nur um die Höhe des Trinkgeldes geht, halte ich mich raus. Doch oft wird der Leiter als „höhere Instanz” dazu gerufen. Bevor ich als Bergführer in den Konflikt eingreife, sollte ich das 1x1 der Konflikt-Kommunikation einigermaßen beherrschen: neutral bleiben, offene Fragen stellen, ausreden lassen und Vorwürfe in Wünsche umformulieren lassen.
Auch wenn wir beim Summit-Club versuchen, ein optimales Verhältnis zwischen Erlebniswert, Zeit- und Kostenaufwand sowie den Erfordernissen der Höhenakklimatisation auf unseren Expeditionen und Trekkingreisen zu gestalten, bleibt die Auswirkung der Höhe auf unsere Teilnehmer ein kritischer Aspekt. Dass die Risiken beim Höhenbergsteigen deutlich größer sind als beim Bergsteigen in den heimischen Alpen ist nicht neu. Das „Führen” hat hier nicht viel mit dem Führen zu Hause zu tun: Meist ist das Gelände nicht extrem und dort, wo Absturzgefahr besteht, ist die Absicherung per Jümar am eingerichteten Fixseil obligatorisch. Mit den einzelnen Teilnehmern immer mal wieder über den individuellen Fortschritt und die körperliche Verfassung zu sprechen macht es leichter, zu guten Entscheidungen zu kommen.
Fazit
Trotz allem: als Bergführer weltweit unterwegs sein zu dürfen, ist für mich ein Privileg. Kein anderer Beruf erfüllt meine Vorstellungen von „draußen sein” und „Freiheit” in diesem Umfang. Das schließt eine glückliche Beziehung und Familie nicht aus. Das wochenlange Wegbleiben, oft ohne Lebenszeichen, macht es aber auch nicht leichter. In meinem Fall klappt das seit 25 Jahren. Verantwortlich dafür ist meine Frau Nadja, wofür ich ihr unendlich dankbar bin.
Tatsächlich hänge ich in der Abarbeitung meiner "Quarantäne-To-Do-Liste" hinterher. Aktuell an erster Stelle steht: Laufen und neu/wiederentdeckt habe ich Yoga (da gibt es super Videos im Netz) sowie meine alte Klimmzugstange. Wenn alles gut geht bin ich nach der Ausgangsbeschränkung fitter und beweglicher als zuvor ;) Fest vorgenommen, und zum Teil schon damit begonnen habe ich mit: Schönheitsreparaturen in der Wohnung und am Auto, Fotos der letzten Reisen sortieren und bearbeiten sowie Ordner, Bergausrüstung, Schränke und Keller ausmisten. Und zur Motivation plane ich zwischendurch Touren, die ich immer schon mal machen wollte aber nie dazugekommen bin.