Jallah - Timesguida
„Wie bekloppt muss man eigentlich sein…?“ denke ich und versuche meinen Schlafsack festzuhalten. Es ist 03:30 Uhr in der Nacht, ...
Reisebericht Jebel Toubkal
Freitag, 14.06.2019 im Refuge de Toubkal auf rund 3.200 m Höhe im Atlasgebirge. Helmut hört nicht auf, an meinem Schlafsack zu ziehen. „Aufstehen, es geht gleich los“ zischt er mir im Dunkeln zu.
Gestern waren wir auf dem Jbel Toubkal, 4.167 m, dem höchsten Gipfel der arabischen Welt. Boar ej! Schon beim Schlafen liegt der Puls um etliche Schläge höher als daheim. Und jetzt wieder aufstehen?!?!
Gestern Abend hatte ich das Wecken bei Helmut bestellt – ich kann es gar nicht mehr glauben.
Endlich gelingt es mir, die lahmen Beine aus dem Schlafsack zu holen. Waschen - Anziehen – Frühstück – Abmarschbereitschaft herstellen – alles läuft ganz mechanisch ab.
Zum Glück gibt es genug Kaffee und ein ordentliches Frühstück. Unser Küchenchef – wir nennen ihn liebevoll „Schubeck“ - gibt echt alles.
Omar – der junger Guide – hält noch schnell sein Morgengebet, dann dackelt unser Klübchen los. Drei von 13 Wanderern der Reisegruppe machen sich auf den Weg. Den anderen genügt der Abstieg von 3.200 m auf 1.700 m mit über 20 km Strecke bis nach Imlil völlig aus. Wir packen noch mindestens sechs Stunden und 1.000 Hm im Auf – und Abstieg dazu. „Wie bekloppt…“ ich erwähnte es schon.
Der Schlachtruf „Jallah Timesguida“ kommt noch sehr dünn aus unseren Kehlen.
Im Licht der Stirnlampen steigen wir auf. Es gibt so gut wie kein fremdes Restlicht. Kein Wunder, die nächsten menschlichen Siedlungen liegen viele km weg. In den Alpen ist das anders.
Dafür zeigt uns Harald nach einer Stunde die Milchstraße am Himmel und die ISS im Überflug. Hammer! Wir sind völlig alleine unterwegs. Nichts und niemand in der Nähe.
Gestern auf dem Toubkal war das anders. Auf dem Gipfel scharten sich bestimmt 100 Bergsteiger, bei einem ständigem Kommen und Gehen. Der höchste Berg übt halt auch die höchste Anziehungskraft aus.
Nach einer weiteren Stunde Aufstieg erreicht das erste Sonnenlicht die Berggipfel. Das Glühen der Berge beginnt um kurz nach sechs am Morgen.
Sind es Wolken oder ist es ein Meer dort am Horizont?
Unser Jallah klingt schon lauter!
Knapp eine Stunde später stehen wir auf dem Pass. Der Blick öffnet sich in Richtung Wüste Sahara und auch Agadir. Solche Ausblicke kenne ich aus den Alpen nicht, definitiv!
Hinter uns hat sich die Sonne inzwischen über den Horizont geschoben. Alles erstrahlt in einem hellen gelblichen Licht.
Jallah – Jallah!
Omar will weiter, drängt zum Aufbruch. Er weiss, dass der Rest der Gruppe am Refuge auf uns wartet.
Die nächste halbe Stunde ist sehr anspruchsvoll. Unter Einsatz von Händen und Füßen klettern wir weiter hoch. Um uns herum nur noch Steine, nur einige wenige Pflänzchen schauen aus Felsspalten hervor.
Harald ruft „Stop!“ Was ist los? 4.000 mtr. sind erreicht, abklatschen und weiter. Da geht noch was! Auch wenn wir gerade das Gefühl haben, auf dem Mond zu laufen.
Um kurz nach neun erreichen wir den Timesguida. Der erste 4.000 er Gipfel an diesem Tag.
Jaaallah.
Omar gibt uns eine Einweisung ins Gelände. Leider sind die anderen Gipfelnamen nicht so eingängig. Wer kann sich schon „Ouanoukrim“ oder „Tiz n
´Ouagane“ merken?
Gipfelfoto als Beweis und weiter geht es. Wir haben Blut geleckt. Binnen einer Stunde machen wir drei (eigentlich sogar vier) 4.000er Gipfel. Einer galt nicht so richtig, weil er zu dicht beim vorhergehenden liegt. Egal. Für uns zählt der Moment. Wir genießen die Aussicht und die Einsamkeit. Leichtfüßig und so schnell es die dünne Luft zulässt, hüpfen wir von Gipfel zu Gipfel. Jallah!
Im Abstieg treffen wir auf die ersten Bergsteiger des Tages. Wir grüßen freundlich und berichten vom tollen Sonnenaufgang in den frühen Morgenstunden. Wer zu spät kommt...
Die Sonne scheint jetzt gnadenlos vom Himmel. Trotzdem sind die kleinen Bäche noch zugefroren. Giftgrüne und stachelbewehrte Pflanzen zeigen uns sehr zuverlässig das Wasser an. Hier oben können wir davon trinken.
Nach sieben Stunden erreichen wir wieder das Refuge. Der Rest der Gruppe ist schon unter Führung des anderen Guide mit samt Küchentross aufgebrochen. Schade, wir hätten viel zu erzählen gehabt.
Gestärkt mit Müsliriegel und Trockenfleisch geht es an den Abstieg. Der schier endlose Pfad nach Imlil liegt vor uns. Mit jedem Meter in Richtung Tal wird es wärmer. Zum Glück gibt es ein paar „Kioske“ am Wegesrand. Wir trinken frisch gepressten Orangensaft. Nie habe ich besseren getrunken.
Gegen Abend erreichen wir das Dorf und unser Hotel. Duschen, eine riesige Menge an Abendessen aus dem Tajine und zuckersüßer Minztee runden den Tag ab. 3.500 Hm und ca. 30 km sind geschafft.
Als ich das letzte Bein im Bett habe, denke ich: „Manchmal ist bekloppt sein ganz schön schön!“
Im Einnicken murmel ich mein einziges arabisches Wort noch ein letztes Mal: „Jallah – Auf geht’s!“